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Den folgenden Artikel fand ich so interessant und aufschlussreich, dass ich mich entschloß, ihn in meine Webseite aufzunehmen, um ihn einem größeren Kreis von Landsleuten nahezubringen, denn wer nicht aus dem Kaukasus stammt, hat nur eine ungefähre Ahnung davon, wie die dortigen Kolonien entstanden sind und wie sie es im Laufe von nicht einmal hundert Jahren zu einem ansehnlichen Wohlstand gebracht haben. Der Autor hat es am Beispiel der Kolonie Helenendorf meisterhaft verstanden, diese Entwicklung, über die mehrere Bücher geschrieben worden sind, in Kurzform darzustellen,

Ich bringe den Artikel an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Schwäbischen Heimatbundes, entnommen der Zeitschrift „Schwäbische Heimat“, 2002/3

Gerhard Walter

 

Ulrich Mohl

Schwäbischer Pioniergeist im Kaukasus - Die russlanddeutsche Kolonie Helenendorf

 

Nachdem schon die Zarin Katharina die Große (1762-96), eine geborene Prinzessin von Anhalt- Zerbst, gleich zu Beginn ihrer Regierung eine erste größere Gruppe deutscher Kolonisten an die untere Wolga gerufen hatte, begann ihr Enkel Alexander I. (1801-25) die inzwischen hinzugewonnenen Gebiete im Süden seines Landes, von Bessarabien bis zum Kaukasus, mit Hilfe deutscher Einwanderer zu erschließen. Die Kolonisten dieser zweiten Welle stammten überwiegend aus Württemberg, mit dem die Zarenfamilie seinerzeit besonders starke ver­wandtschaftliche Bande geknüpft hatte. Hauptsäch­lich ließen sie sich im Schwarzmeerraum nieder, doch manche fuhren bis nach Transkaukasien.

Die Aussicht, in den Weiten Russlands unentgeltlich zu beträchtlichem Grundbesitz zu kommen, hatte viele landarme Familienväter bewogen, nach «Neurussland» zu ziehen, zumal ihnen der Zar auch einen langjährigen Verzicht auf Abgaben, Befreiung vom Heeresdienst, Selbstverwaltung sowie ungehinderte Religionsausübung zugesichert hatte. Das letztere war für viele gottesfürchtige Schwaben sogar ausschlaggebend gewesen. Württemberg war bekanntlich seit dem 18. Jahrhundert stark pietistisch geprägt. Viele der streng konservativen Schwaben bekämpften daher die seinerzeit herrschende liberale Strömung in ihrer Landeskirche. Das von Rationalismus und Aufklärung infizierte «neue» Gesangbuch von 1791 bildete für sie einen schweren Stein des Anstoßes, ebenso die im selben Geist verfasste Liturgie von 1809.

Nun gab es außer diesen «Stundenleuten» (heute Altpietisten) auch einige Splittergruppen, die sich von ihrer angestammten Kirche getrennt hatten, so genannte Separatisten. Zu diesen Sektierern zählten die Chiliasten (Chiliade griechisch = Reihe von Tausend), die in unmittelbarer Zukunft den Anbruch des Tausendjährigen Reiches erwarteten, wobei sie lehrten, Christus werde zuerst im Osten, auf dem Berge Ararat, erscheinen. Diese Vorstellung wurde von dem zuletzt in Karlsruhe wirkenden Schriftstel­ler Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) und der Deutschbaitin Barbara von Krüdener (1764- 1824), einer geborenen Vietinghoff, genährt. Letztere trat als Prophetin auf und hat hunderte ihrer Anhänger für den Exodus gewonnen. Auch Alexander I. stand ihr nahe. Der Zar wiederum galt, im Gegensatz zu vielen deutschen Potentaten, als tiefgläubiger Christ und stand als Begründer der Heiligen Allianz und einer evangelischen Bibelgesellschaft in Sankt Petersburg bei den Pietisten in höchstem Ansehen. Insgesamt gesehen blieben die Separatisten und Chiliasten weit in der Minderzahl, aber sie betätigten sich als unermüdliche Agitatoren und ent­fachten nach 1815 eine starke Auswanderungsbewegung. Auch zählten viele von denen, die da mitzo­gen, nicht zu den Strenggläubigen, aber fromm waren die allermeisten von ihnen.

Im Herbst 1817 begann eine Aus­wanderungswelle nach Südrussland.
Von Ulm an fuhr man auf den «Ulmer Schachteln» die Donau abwärts.


700 pietistische schwäbische Familien hatten sich 1815 nach Ende der napoleonischen Kriege in einem Gesuch an Zar Alexander I. gewandt. In Bezug auf dessen Erlass von 1804 baten sie, ihnen unter Gewährung der bereits genannten Privilegien in dem kurz zuvor von den Russen eroberten Trans- kaukasien Land zuzuweisen, das für Obst- und Weinbau geeignet wäre. Anlässlich eines Besuchs von Zar Alexander I. in Stuttgart wurde dieses Gesuch dem Zaren vorgelegt und am 10. Mai 1817 genehmigt.

Nach Intervention des Zaren Alexander erreichen im Herbst 1818 2000 Auswanderer Tiflis

Gleich mit Beginn der warmen Jahreszeit begann 1817 der große Exodus nach Südrussland. Die meis­ten schwäbischen Aussiedler dieses Sommers gehörten zu einer der fünfzehn «Harmonien», die sich Transkaukasien als «Bergungsort» erkoren hatte. Bis zu 50 Familien zählte eine solche Abteilung. Die Fahrt begann in Ulm, und von dort ging es dann über Wien, die Donau hinunter, bis zum Delta. Eine derartige Schiffsreise währte sieben bis acht Wochen. Je länger die Fahrt dauerte, umso erschöpfter waren die Passagiere. Die starke Sommerhitze ertrugen die meisten nur schwer. Auch grassierten ansteckende Seuchen, Schmutz und Ungeziefer taten ein Übriges, sodass fast täglich Todesfälle zu beklagen waren und es unvermeidlich wurde, die Neuankömmlinge in Ismail, der Endstation der Schiffsreise, einige Wochen in Quarantäne zu halten. Allein in dieser Stadt sollen im Jahr 1817 1328 Menschen begraben worden sein.

Im Schwarzmeergebiet war eine Überwinterung eingeplant. Die überlebenden Auswanderer fanden alle Quartier bei den dort seit etwa einem Jahrzehnt ansässigen Landsleuten, in Peterstal, Josefstal, Karls­tal, Großliebental und in anderen Schwabendörfern. Allerdings schien die Weiterfahrt in den Kaukasus nicht mehr gesichert. Die russischen Behörden in Odessa hatten nämlich mittlerweile verfügt - angeb­lich wegen der Aufstände in Kaukasien -, dass alle Neuankömmlinge im Schwarzmeergebiet angesie­delt werden sollten. Diese jedoch wollten in der Mehrzahl nicht von ihrem «gelobten Land» lassen und bestanden auf ihrem Weiterzug. Als sie mit diesem Begehren auf taube Ohren stießen, sandten sie mitten im Winter 1817/18 eine Delegation zum Zaren, der sich damals gerade in Moskau aufhielt, und erinnerten ihn an seine Zusagen. Alexander empfing die württembergischen Abgesandten dann auch wohlwollend und genehmigte die Weiterreise, ja, er sicherte ihnen sogar einezusätzliche Hilfe zu. Jede Familie erhielt für den Treck nach Kaukasien einen Vorschuss von 500 Rubel zum Kauf eines Wagens mit zwei Pferden, außerdem täglich 40 Kopeken pro Kopf für die Verpflegung.

 


Die deutschen Kolonien in Transkaukasien. Der Pfeil zeigt auf die schwabische Siedlung Helenendorf.

 

Im August 1818 konnte der Zug nach Transkaukasien angetreten werden. Nun hatten sich aber inzwischen 300 von den ursprünglich 700 Familien entschlossen, im Raum Odessa zu bleiben. Sie gründeten hier die Kolonie Hoffnungstal. Dafür schlössen sich den zur Weiterreise Entschlossenen 100 Familien der seit 1804 bei Odessa angesiedelten deutschen Kolonisten an, sodass es immerhin 500 Familien waren, die schließlich in zehn Kolon­nen unter Führung je eines russischen Regierungs­kommissars und eines deutschen Kolonnenführers loszogen. Ihr Weg führte in 80 Tagen über die südrussische Steppe in das Kubangebiet und von dort in den Kaukasus nach Tiflis in Georgien, wo die rund 2000 Deutschen im November 1818 ankamen. Die ersten fünf Kolonnen, so hatte die örtliche Ansiedlungsbehörde bestimmt, erhielten Land im Umfeld der Stadt Tiflis zugeteilt. Dort entstanden dann fünf Schwabendörfer. Die zweite Hälfte der Kolonisten musste gegen ihren Willen weiterziehen. Von Kosaken wurden diese noch 180 km nach Osten bis Aserbeidschan eskortiert. Im Bereich der alten Tatarenstadt Gandscha - unter den Zaren später Jelisawetpol, unter den Sowjets Kirowabad genannt - entstanden drei weitere deutsche Kolonis­tendörfer, von denen Helenendorf die glücklichste Entwicklung zu verzeichnen hatte.

Gründung der Kolonie Helenendorf in Transkaukasien - «goldener Boden» für Handwerker und Weinbauern

Für die Siedlung Helenendorf waren insgesamt 135 schwäbische Auswandererfamilien bestimmt worden. Im Dezember 1818 kamen diese an Ort und Stelle, sahen sich aber zunächst gezwungen, in der Stadt Gandscha bei christlichen Armeniern zu über­wintern. Am Osterdienstag 1819 wurden sie dann von Regierungsvertretern in die ehemalige, seit lan­gem verlassene Tatarensiedlung Chanochlar eingewiesen, wo außer einem verschütteten Bewässe­rungskanal und einigen Erdlöchern nichts mehr an die einstigen Bewohner erinnerte. Aber der Ort war nicht schlecht gewählt. Nur sieben Kilometer von dem Verwaltungszentrum Gandscha und damit einem Hauptverkehrsweg - mit späterem Eisen- bahnanschluss - entfernt, aber 330 m höher und damit gesünder am Fuß des Kleinen Kaukasusgebir­ges gelegen, auch mit guten Böden versehen, boten sich hier durchaus erfreuliche Perspektiven. Dennoch hätten es die Ansiedler ohne weitere Unter­stützung nicht geschafft. In der Anfangszeit erhiel­ten die Schwaben pro Kopf zehn Kopeken für den täglichen Unterhalt, und im ersten Jahr bot die Regierung sogar eine Gruppe von Armeniern auf, um die Felder der deutschen Kolonisten zu bestel­len. Auch ließ sie sofort die Straßen und Hofstellen vermessen, sodass die Siedler mit dem Bau ihrer Behausungen beginnen konnten. Es waren zunächst einfache Erd- oder Lehmhütten mit Dächern aus Stroh oder Schilf.

Die Ankömmlinge litten schwer unter dem heißen Klima, und die Malaria holte viele Opfer. Zwei Jahrzehnte lang gab es mehr Sterbefälle als Geburten (1829/30: 60 Geburten, 120 Todesfälle, davon 61 an Pest und Cholera). Im russisch-persi­schen Krieg 1826-28 wurde Helenendorf niederge­brannt. Zweimal mussten die Kolonisten evakuiert werden, einmal nach Gandscha, 1827 sogar nach Tif­lis. Bei der Rückkehr fanden sie alles zerstört. Glücklicherweise kam der Zar großzügig für die Kriegs­schäden auf.

In den Dreißigerjahren ging es dann langsam auf­wärts. Die Kolonisten waren inzwischen dazu über­gegangen, Häuser aus Stein zu bauen. Überhaupt hatten sie gelernt, sich den örtlichen Verhältnissen besser anzupassen, sich zweckmäßiger zu ernähren und kein ungekochtes Trinkwasser zu verwenden, wobei es den schaffigen Schwaben besonders schwer gefallen war, während der ärgsten Mittags­hitze eine längere Pause einzulegen.

Die stattliche Sankt Johannes-Kirche bauten die Helenen­dorfer Mitte
des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1857 wurde sie eingeweiht.

 

Auf jede der 118 Hofstellen von 1819 entfiel rein rechnerisch etwa 60 Hektar Land. Da jedoch von der gesamten staatlichen Landzuteilung ungefähr ein Drittel als gemeinsames Weideland ausgewiesen wurde und weitere 1300 Hektar als nicht nutzbar galten, blieben den einzelnen Landwirten nur rund 28 Hektar. Bis zur Jahrhundertwende konnte der Wert des Kolonistenlandes durch den Bau von Bewässerungsanlagen versechsfacht werden, und die wachsende Agrarproduktion erlaubte es dann immer wieder, einzelne Höfe zu teilen. Auch mach­ten die deutschen Siedler von der Möglichkeit, den Einheimischen Land abzukaufen, regen Gebrauch. Die Helenendorfer Landwirte lebten fast ausschließ­lich vom Weinbau. Bei intensiver Bodenbearbeitung versprach dieser unglaublich hohe Erträge. Die Spit­zenwerte erreichten 200 Hektoliter pro Hektar. Infol­gedessen wuchs der bäuerliche Wohlstand von Jahr zu Jahr.

Aber auch das örtliche Handwerk besaß einen goldenen Boden. Die Statistik von Helenendorf verzeichnete 1908: 9 Wagenbauer, 9 Zimmerleute, 9 Schmiede, 6 Böttcher, 6 Tischler, je 4 Schneider, Maler und Ofensetzer, 3 Schlosser und 1 Schuhma­cher, lauter Kolonistenbetriebe. Daneben arbeiteten auch zahlreiche fremdvölkische Bewohner in Helen­endorf als Handwerker: 60 Armenier und 40 Lesgier, letztere vorwiegend als Maurer. Der örtliche Handel lag lange Zeit ganz in den Händen von sechs armeni­schen und fünf tatarischen Kaufleuten, bis diesen von deutscher Seite eine Konkurrenz erwuchs.

1903 nämlich gründeten 228 Helenendorfer Kolo­nisten einen Konsumverein mit einem Grundkapital von 7000 Rubel, der bereits vier Jahre später einen Umsatz von 145000 Rubel erzielte, bei einem Rein­gewinn von 10000 Rubel, der zu 60 % an die Mitglie­der zurückvergütet wurde. In diesem Geschäft, dem seit 1908 auch eine Schlachterei angeschlossen war, fanden die Beteiligten so gut wie alles, von den Kolonialwaren über den Christbaumschmuck bis zu den landwirtschaftlichen Maschinen.

Die Einwohnerzahl von Helenendorf betrug im Jahr 1908, das heißt in der Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg, 3525 «Seelen». Davon waren 2234 Kolonisten und 150 sonstige Deutsche sowie 1141 Fremdländische, darunter 400 Russen, hauptsächlich Kosaken, Angehörige der örtlichen Garnison, 366 Armenier und 300 Perser als Saisonarbeiter, 40 Lesgier, 30 Grusinier und 5 Tataren. Mischehen zwischen Kolonisten und Fremdvölkischen hat es über vier Generationen hinweg praktisch nicht gegeben.

 

Glücklicherweise hatten sich unter den Helenendor­fer Kolonisten der Gründergeneration ein Schullehrer befunden. Dieser, Johann Jakob Krauß, gebür­tig aus Mehrstetten im Oberamt Münsingen, wurde erster geistlicher Lehrer und Schulmeister der Kolonie. Er unterwies in Lesen, Schreiben, Rechnen und biblischer Geschichte, und zwar zuerst in seiner Hütte, bis die Gemeinde 1823 eine eigene Schule errichtete. Diese bestand anfangs aus einer, später aus zwei Massen, jedoch mit jeweils mehrjährigem Schulbesuch, wobei man aber lange Zeit über den Standard einer russischen Volksschule nicht hinauskam. Die nächste Generation wurde auch in Geo- grafie und Geschichte unterrichtet, wobei besonders die Verhältnisse in Deutschland zur Sprache kamen, und seit den 1890er-Jahren war ein intensiver Russischunterricht obligatorisch. Die Regierung verlangte, dass die Kinder beim Abgang von der Schule der russischen Sprache vollkommen mächtig sein sollten, was ihnen nur zum Vorteil gereichen konnte, indessen kaum erreicht wurde, weil man in den Elternhäusern ausschließlich Deutsch sprach.

Anfangs unterstand die Schule geistlicher, seit 1892 weltlicher Aufsicht. Sie wurde im Laufe der Jahre immer weiter ausgebaut. 1908 zählte sie 388 Schüler - 180 Knaben und 208 Mädchen -, die von fünf deutschen und einem russischen Lehrer in ver­schiedenen Abteilungen unterrichtet wurden. Dazu kam 1907 eine «Fortbildungs- und Zentralschule», die Kindern aus allen transkaukasischen Kolonien offenstand - für Auswärtige gab es ein Internat - und die 1910 in eine Realschule umgewandelt wurde. Wer ein Studium ins Auge fasste, musste bis 1918 auf die Gymnasien in Gandscha oder Tiflis überwechseln.

Was das geistliche Leben anbetraf, so war die Gemeinde jahrelang auf die Aktivität von Laien angewiesen. Einen eigenen Pfarrer erhielt Helenen­dorf erst 1832. Dieser wurde von der Regierung besoldet und erhielt von der Gemeinde ein Pfarr­haus erbaut. Eine eigene Kirche - seit 1822 bestand ein Bethaus - konnte erst 1857 eingeweiht werden.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein hielt man in den schwäbischen Kolonien an den alten Traditionen fest. In den Kirchen benutzte man noch das ehrwür­dige Gesangbuch von 1741. Wenn auch der Einfluss der Strenggläubigen allmählich geringer geworden war, behielten die Pietisten doch lange das Sagen. Fast bis 1900 blieb die Bibel das einzige Lesebuch in der Schule. Auch durften dort keine Volkslieder gesungen werden, und Tanzen galt bei den Alten als Todsünde. Sicherlich hat sich im Lauf der Zeit vieles überlebt, aber die Mentalität blieb.

Bis heute liegen mitunter zwischen den mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrten Russland­deutschen und den Einheimischen Welten. Vielfach finden sich die älteren Aussiedler in den evangeli­schen Landeskirchen nicht mehr zurecht und bilden daher, sofern sie nicht bei den Altpietisten eine reli­giöse Heimat finden, wie schon einmal vor zwei­hundert Jahren ihre eigenen kirchlichen Kreise.

 

Dieses Foto von 1863 zeigt die Helenendorfer Familie Hummel in traditioneller Kleidung.


Auch sonst pflegten die Helenendorfer die alten Überlieferungen. Sie kleideten sich drei Generatio­nen lang nach Altvätersitte und behielten ihren Dia­lekt bei, ein absolut reines Schwäbisch, wie es anderswo kaum mehr anzutreffen war. Das lässt sich nur damit erklären, dass in den Südkaukasus ausschließlich Schwaben ausgewandert waren, woge­gen die Kolonisten der übrigen deutschen Siedlun­gen in Russland aus den verschiedensten Ländern stammten und sich daher dort mit der Zeit ein Dia­lektgemisch herausgebildet hatte.

Im Südkaukasus hielt man auch an der schwäbischen Küche fest. Noch im 20. Jahrhundert gab es deutsches Schwarz- und Weißbrot, bei besonderen Anlässen schwäbischen Kuchen und zu Weihnachten «Springerle». Mittags kamen oft Spätzle oder Nudeln auf den Tisch, und zum Frühstück hielt man am Kaffeetrinken fest. Bloß abends gab es Tee aus dem russischen Samowar. Beim Mittagessen und zum Vesper dagegen wurden große Mengen Wein konsumiert. Von den Kaukasiern hatten die Schwa­ben verschiedene Reisgerichte und Schaschlik (Hammelfleisch am Spieß) übernommen, von den Russen Suppen (Borschtsch) und Sakuski (Vorspeisen mit Schafskäse, Gurken, Zwiebeln u.a.), auch das Fladenbrot der Einheimischen.

In der «Musterkolonie» Helenendorf blühen Theater und Musik - Nach dem Ersten Weltkrieg führt die Oberrealschule zum Abitur

Erst die vierte Kolonistengeneration gab sich weltoffener. Sie zollte dem Fortschritt ihren Tribut und machte ihren Geburtsort in vieler Hinsicht zu einer Musterkolonie. Nicht selten gingen die Söhne der einflussreichen Familien, der Vohrer und Zaiser, der Hummel und Votteler, zum Studium oder zur weiteren Ausbildung in die großen Städte Russlands oder gar ins Ausland und brachten von dort nicht nur neue Ideen mit, sondern manchmal sogar Frauen, die in einer ganz anderen, modernen Tradition aufgewachsen waren. Solche aufgeklärte junge Leute bestimmten in zunehmendem Maß das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Kolonie.

Anzeichen für einen Trendwechsel lassen sich bald nach 1890 erkennen. Nunmehr wurden die Schulen der geistlichen Aufsicht entzogen, und auch in den Kirchen wehte ein neuer Geist. Auf die noch der streng evangelikalen Linie verpflichteten Pastoren des neunzehnten Jahrhunderts folgte 1906 der liberale und weltmännische Balte Oskar von Weren und versuchte, von der Kanzel herunter den Pietismus zurückzudrängen, indem er seine Schäflein lehrte, dass Theaterspiel und Pflege des Volkslieds keine Sünden darstellten. Bereits 1893 hatte sich in Helenendorf ein «Deutscher Verein» gebildet, eine Art Herrenklub von bald 60 Mitgliedern, in dessen Räumen deutsche und russische Zeitungen und Zeitschriften auslagen. Der Verein unterhielt eine eigene Bibliothek und eine Kegelbahn, schließlich sogar ein Streich- und ein Blasorchester sowie eine Theaterabteilung, die schon vor dem Ersten Weltkrieg jährlich mehrmals an die Öffentlichkeit traten. Daneben bildeten sich in dem sangesfrohen Ort einige stimmgewaltige Chöre. Eine weitere Bereicherung des kulturellen Lebens erfuhr die Siedlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Gründung des «Helenendorfer Frauenvereins», der binnen weniger Jahre 70 weibliche Mitglieder zählte. Diese Vereinigung widmete sich der Armenpflege sowie der Nachbarschaftshilfe und verschaffte sich die dazu notwendigen Geldmittel durch die Veranstaltung von Konzerten, Theatervorstellungen und Wohltätigkeitsbasaren.

Die Verantwortlichen der genannten Gruppen waren es auch, die den weiteren Ausbau des Helenendorfer Schulwesens vorantrieben. Mit seiner Realschule war der Ort seit 1910 zum Zentrum des deutschen Schulwesens in Transkaukasien emporgestiegen. Zwar wurde diese erfreuliche Entwicklung schon vier Jahre später jäh unterbrochen, denn während des Ersten Weltkriegs mussten alle deutschen Schulen in Russland ihre Pforten schließen, aber nach der Februar-Revolution 1917 konnte die Anstalt wieder eröffnet werden, und im Jahr darauf entstand daraus eine Oberrealschule, die nunmehr zum Abitur führte und an der bis 1926 auch zahlreiche «reichsdeutsche» Lehrkräfte beschäftigt waren. Einige Persönlichkeiten des Kol­legiums wurden sogar unionsweit bekannt. Dazu zählten die Musikpädagogen Alois Melichar und Helmut Tietz, vor allem aber der Oberlehrer Jakob Hummel, der bei Helenendorf Aufsehen erregende frühgeschichtliche Ausgrabungen machte und dafür zum Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde.

Überhaupt erfuhr das kulturelle Leben Helenendorfs nach dem Ersten Weltkrieg nochmals eine reiche Blüte. Das galt insbesondere für die Pflege von Theater und Musik. Der Ort besaß eine hervorragende Blaskapelle und außerdem - 1930 wurde eine Musikschule für Streicher und Pianisten gegründet - ein eigenes Sinfonieorchester. Einen besonders guten Ruf erwarb sich das örtliche Laienspielensemble, das sogar Operetten aufführte, zum Beispiel Lehars Lustige Witwe. Bei den Abschlussfeiern hatte auch die Theatergruppe der Oberrealschule öffentliche Auftritte, meist mit Dramen von Schiller. Zuletzt wurde 1936 die Komödie «Der Parasit» gezeigt. Solche Veranstaltungen fanden im großen Saal des Deutschen Vereins statt, der 400 Plätze fasste.


Die schwäbischen Bnuernwagen aus Helenendorf wurden in neun Stellmachereien
gefertigt und weitum verkauft.


Immer wieder war Helenendorf auch Mittelpunkt von überörtlichen Festivitäten. Einige Male trafen sich dabei die Chöre aller deutschen Kolonien Transkaukasiens zu viel beachteten Sängerfesten. Recht eindrucksvoll gestaltete sich auch 1934 ein Treffen der Blasorchester aus den verschiedenen Kolonien. Als größtes Ereignis in der Geschichte Helenendorfs gilt jedoch die Jahrhundertfeier von 1919. Dazu traf sich alles, was im Kaukasus Rang und Namen hatte. Selbst aus Deutschland waren Gäste angereist. Höhepunkte dieser Säkularfeier bildeten der von fünf Geistlichen zelebrierte Fest­gottesdienst und ein kilometerlanger historischer Festzug durch die geschmückten Straßen der schwäbischen Kolonie. Seit diesem Großereignis galt Helenendorf als das bedeutendste deutsche Kulturzentrum im Kaukasusraum.

Die Einwohner Helenendorfs stammten aus einundsiebzig verschiedenen Orten des Königreichs Württemberg, doch allein zweiundzwanzig Fami­lien kamen aus Reutlingen, das in Schwaben als «Stadt der Millionäre» gilt. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass auch die wohlhabendsten Leute der kaukasischen Kolonie ihre Herkunft auf Einwande­rer aus der rührigen schwäbischen Industriestadt zurückführen konnten. Genannt seien hier die Reutlinger Familien Hummel, Vohrer und Votteler, die es zu größtem Ansehen brachten, erstere als Gutsbesitzer und Weingroßhändler, die letztere als Inhaber des bedeutendsten Handwerksbetriebs weit und breit. Diese Unternehmer-Persönlichkeiten haben Helenendorf bis ins Innere Russlands hinein bekannt und berühmt gemacht.

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war Johann Philipp Votteler (geb. um 1830) zum erstrangigen Wagenbauer der Kaukasusregion geworden. Er leitete die weitaus größte der neun Helenendorfer Stellmachereien und fertigte im Laufe eines langen Berufslebens tausende von Planwagen, vierrädrige Bauernwagen nach altwürttembergischem Muster, die bald in der ganzen Region, aber auch in Turkes- tan und Persien Verwendung fanden. Im russisch­türkischen Krieg 1853-56 verließen täglich bis zu zehn Helenendorfer Wagen als Heereslieferungen die heimischen Werkstätten und wurden mit 500 Rubel (1080 Goldmark) pro Stück bezahlt. Bis zum Ersten Weltkrieg konnte sich die Firma Votteler - seit 1900 war es mit Gottlob, Heinrich und Theophil Vot­teler die zweite Generation - gegen die wachsende armenische Konkurrenz halten. 1908 betrug die Jahresproduktion des Familienbetriebs an Bauernwagen, nunmehr mit Hilfe modernster elektrischer Maschinen hergestellt, immer noch 300 Stück.

Eine noch viel umfangreichere Geschäftstätigkeit entfalteten die beiden bedeutenden Helenendorfer Weinbaubetriebe Vohrer und Hummel. Die Begrün­der dieser europaweit bekannten Firmen schafften es, aus kleinsten Anfängen heraus zu den bekannte­sten Handelshäusern des Zarenreiches aufzusteigen.


Christoph Vohrer I (1827-1916) galt als der bekannteste und erfolgreichste Bürger von Helenen­dorf. 1847 hatte er das von seinem Vater geerbte Kolonistengut übernommen und gleich begonnen, einen umfangreichen Weingarten anzulegen. Seit 1856 war er im Weinhandel tätig. In den Folgejahren hat er dann in der näheren und weiteren Umgebung von Gandscha riesige Ländereien hinzuerworben. Schließlich hatte er seinen Landbesitz mehr als verhundertfacht. Seine gepflegten Rebflächen konnten als Mustergüter gelten. Vohrer und seine Nachfolger - am Ende war die vierte Generation in das Geschäft eingestiegen - arbeiteten mit den moderns­ten Methoden, die Christoph Vohrer II (1848-1931) im Ausland kennen gelernt hatte. Die neu erworbe­nen Flächen im Gebirgsvorland bei Gandscha wurden mit hohem finanziellem Aufwand bewässert und urbar gemacht. Für den weiteren Ausbau des Betriebs zog man Fachkräfte - Agronomen, Ingeni­eure, Kellermeister - aus Deutschland heran. An vier verschiedenen Standorten ließen die Vohrers riesige, bis zu drei Stockwerke tiefe Kellereien erstellen. Die allergrößte befand sich bei der Bahnstation Gandscha und besaß einen eigenen Gleisanschluss, elektrisches Licht sowie ein Ventilationssystem. Die Anlage umfasste ein Labor, Press- und Gärräume - die Pressen lieferte Mayfarth aus Frankfurt a.M. -, dazu einen ungeheuer umfangreichen Weinkeller, in dem der Rebensaft in gewaltigen Fässern aus kauka­sischer Eiche heranreifte. Seit 1908 wurden auch glasierte Betonbehälter benutzt.


Vier Generationen der Familie Vohrer in Helenendorf: Christoph Vohrer I (1827-1916),
Christoph Vohrer II (1848-1931), Christoph Vohrer III (1882-1941) und
Christoph Vohrer IV (1907-1941).

Rund um Gandscha wurden ursprünglich nur so genannte Blauhölzer angebaut, deren Trauben einen sehr trockenen, dunklen Rotwein lieferten, außerdem die Sorte Rundweiß, die einen leichten, milderen Weißwein ergab, einen Massenwein, von dem über 30000 Liter pro Hektar eingebracht werden konnten.

 

Küfer in Helenen­dorf bei ihrer Arbeit. Die Größe der Fässer verdeut­licht auf ihre
Weise den jähr­lichen Weinsegen.

 

Diese natürlich vergorenen Weine wurden jedoch nur im kaukasischen Raum bevorzugt. Die Russen schätzten damals hauptsächlich Süßweine. Um diese herzustellen und ins große Geschäft zu kommen, mussten die kaukasischen Trockenweine künstlich gesüßt und mit Weinsprit auf einen Alko­holgehalt von 16 bis 20 Grad gebracht werden. Dazuhin wurden aber seit den Neunzigerjahren zahlreiche andere einheimische und ausländische Rebsorten eingeführt und kultiviert. Um 1900 war schließlich das Angebot des Helenendorfer Wein­handels so groß und breit gefächert, dass damit ein Gutteil des russischen Marktes abgedeckt werden konnte.

Inzwischen waren die vier Söhne von Christoph Vohrer I in das Weingeschäft eingetreten, das nun als «Christoph Vohrer und Söhne» und nach dem Ausscheiden des alten Vaters als «Gebrüder Vohrer» firmierte. Durch die Mitarbeit der Vohrersöhne hatte der Betrieb einen riesigen Aufschwung genommen und unterschied sich nicht mehr von den großen Weinkellereien in Europa. Seit 1894 beteiligte sich die Firma an internationalen Ausstellungen. In Hamburg (1898), Magdeburg (1899), Paris (1900) und Tiflis (1901) erhielt sie je eine goldene Medaille, die der alte Vohrer bei feierlichen Anlässen stolz um den Hals trug. Vohrerweine wurden seinerzeit in allen großen Städten des Zarenreiches bis nach Sibirien hinein angeboten, aber auch die Erzeugnisse der firmeneigenen Kognakbrennerei, der Spiritus­fabrik und einer Bierbrauerei fanden im weiten Umkreis ihre Abnehmer.

Um 1900 bereitete sich schon die dritte Vohrergeneration auf den Eintritt in den Betrieb vor. Nach Beendigung der Helenendorfer Schule waren die Enkel auf das Gymnasium von Gandscha oder Tiflis gekommen und von dort auf die verschiedensten Fachschulen Deutschlands, wo sie sich die für das Geschäft nötigen Kenntnisse erwarben. 1910 arbeite­ten bereits sechs Enkel des Firmengründers in dem Großunternehmen. In diesem Jahr wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der nun­mehr zehn Familienmitglieder aktiv beteiligt waren. Sie besaß zehn Filialen, bis Krasnojarsk in Sibirien. Direktor der Gebrüder Vohrer AG wurde Christoph Vohrer III (1882-1941).

Eine weitere Reihe erfolgreicher Geschäftsleute stellte die ebenfalls aus Reutlingen eingewanderte Familie Hummel. Unter den ersten Siedlern von Helenendorf befand sich ein Johann Heinrich Hum­mel (1780-1835), genannt Glaserhummel. Dessen Sohn Johann Georg Hummel (1809-1866), auch noch Reutlingen geboren, hatte sechs Söhne, Heinrich, Georg, Andreas, Johannes, Gottlob und Christian, die zwischen 1830 und 1850 geboren waren und alle einen gesunden Geschäftssinn entwickelten. Jeder von ihnen galt als begütert und war, sei es durch Erb­schaft, Kauf oder Heirat, zu Grundvermögen gekommen. 1875 besaßen die sechs Familien zusammen fünfeinhalb Wirtschaften, das hieß über 150 Hektar Land.

Diese eineinhalb Quadratkilometer Familienbesitz wurden zum Grundstock für ein zweites großes Helenendorfer Handelsunternehmen. Als treibende Kraft in diesem Betrieb galt Gottlob Hummel (geb. 1844). Im Hinblick auf die projektierte transkaukasische Eisenbahn von Batum am Schwar­zen Meer bis Baku am Kaspischen Meer, die an der Stadt Gandscha vorbeiführte, bewog er 1878 seine drei älteren Brüder Georg, Andreas und Johannes, vor den Toren Gandschas ein zehn Desjatinen ( 11 ha) großes Stück Land aufzukaufen und mit Reben zu bepflanzen. An dieser Stelle wurde 1883 eine mo­derne Kelter gebaut, in der die vier Brüder neben den eigenen Trauben auch hinzugekaufte Früchte verarbeiteten. Damit begann der Weinhandel im Großen. Gleich nach Fertigstellung der Bahn (1883) eröffneten die Gebrüder Hummel Verkaufsstellen in Baku und Tiflis.

Der Betrieb florierte jedoch nicht wie erwartet, und zwar lag das an der Qualität der Weine. Die in den Tatarendörfern aufgekauften Sorten erwiesen sich als schlecht verkäuflich, und auch die Helenen-dorfer Produkte entsprachen, wie bereits erwähnt, nicht dem Geschmack der russischen Kundschaft. Mehrfache Versuche, die eigenen Weine mit solchen aus dem östlichen Aserbeidschan zu verschneiden, brachten nicht den erwünschten Durchbruch. Richtig aufwärts ging es erst, als sich bei den zwei Helenendorfer Handelshäusern die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass man sich auf einem größe­ren Markt nur behaupten konnte, wenn man andere und bessere Trauben verarbeitet.

Zu den anfänglichen Absatzschwierigkeiten kam hinzu, dass Andreas Hummel 1886 gestorben war und Georg Hummel, der Alteste von den vier Brüdern, daraufhin - resigniert über die vielen Enttäuschungen - das gemeinsame Unternehmen ver­ließ. Aber Gottlob Hummel gab nicht klein bei. Zusammen mit seinem Bruder Johannes und mit drei Neffen gelang es schließlich doch, die Krisen­situation zu überwinden, und mit Hilfe der jüngeren Generation kam es dann auch tatsächlich zu einem neuen, anhaltenden Aufschwung.

Um die Jahrhundertwende von 1900 wurde der Betrieb stark erweitert. Bereits 1895 hatten die beiden Senioren in Gandscha eine Kognakbrennerei gegründet und dafür 18 Desjatinen, fast 20 Hektar, Land aufgekauft, das mit bewährtem Brenngut, mit kachetiner und ausländischen Rebsorten, bepflanzt wurde. 1902 musste die Kelter von Gand­scha um eine Kapazität von 50 000 Eimer (ein russischer Eimer = 12,3 Liter) erweitert werden, und 1904 entstand beim Bahnhof ein zusätzlicher großer Weinkeller. In Batum und Kars wurden zwei Verkaufsfilialen eröffnet. Doch erst der Erwerb von fast fünf Quadratkilometern Neuland bei der Stadt Schamchor im Jahre 1906 bedeutete den Durchbruch zum Großunternehmen.


Vesper während der Weinlese in Helenendorf

Diese Liegenschaften, etwa 30 km westlich vom Stammsitz der Firma gelegen, wurden durch sorg­fältigste Bodenbearbeitung urbar gemacht und dann mit amerikanischen Rebsorten bepflanzt. Letztere hatten sich als besonders resistent gegenüber der inzwischen in den Kaukasus eingeschleppten Reb­krankheit Phylloxera (Reblaus) erwiesen. Die Hum- melsche Methode der Reblandbewirtschaftung bestand darin, mit Hilfe von Dampfpflügen den Untergrund tief umzugraben. Bei den solcherart bearbeiteten Böden konnte man sich dann mit einer Bewässerung pro Jahr - statt bis dahin fünf - begnü­gen und dennoch wachsende Erträge verzeichnen. Für die erste Ernte im Bezirk Schamchor wurde nochmals ein Weinlager für 40000 Wedro (4920 hl) angelegt, und in den Folgejahren konnten in der neuen Anlage jeweils 20 weitere Hektar an Weingär­ten erschlossen werden.

Auch organisatorisch war der Betrieb auf eine tragfähige Basis gestellt worden. Seit dem Jahr 1900 führte er den Namen «Handelsgesellschaft Gebrüder Hummel». An diesem Helenendorfer Großhandelsunternehmen waren die Brüder Theodor und Hermann (Söhne von Heinrich Hummel, gest. 1873), Eduard und Ernst (Söhne von Andreas Hummel, gest. 1886) sowie Heinrich und Gottlieb (Söhne des altershalber ausgeschiedenen Johannes Hummel) zu je einem Achtel, ihr Onkel Gottlob Hummel dagegenzu einem Viertel beteiligt. Damit begann ein rasanter Aufstieg.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der Umsatz der Handelsgesellschaft unglaublich stark angestiegen. Jahr für Jahr verzeichnete die Firma zweistellige Zuwachsraten, sodass die «Gebrüder Hummel» im Jahre 1915 nicht weniger als 975600 Eimer (ca. 12 Millionen Liter) an Weinen vermarkten konn­ten. Damit dürfte die Handelsgesellschaft Gebrüder Hummel im Weingeschäft den Umfang des Vohrer- schen Imperiums erreicht haben.

Reichtum und Selbstbewusstsein der Schwabendörfer erleichtern Übergriffe der Rotarmisten und Enteignung

Die großen politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben den deutschen Kolonien in Südrussland schwere und zuletzt tödliche Wun­den geschlagen. Schon die Revolution von 1905, ver­ursacht durch den unglücklichen Verlauf des rus­sisch-japanischen Krieges, war an Helenendorf nicht spurlos vorübergegangen. Die reichen Helenendor­fer Familien waren wiederholt Erpressungen und Mordanschlägen armenischer Revolutionäre ausge­setzt. Auch der amtierende Pastor hatte seinerzeit ein gewaltsames Ende gefunden. Was dann kam, war nur die Ruhe vor dem großen Sturm.

Generellen Anfeindungen sahen sich alle deut­schen Kolonisten ausgesetzt, und sie konnten auch, bei allem Respekt vor ihren kulturellen Leistungen, bei den verschiedenen Völkerschaften ihrer Wahl­heimat keine besonderen Sympathien erwarten. Zu stark war das Selbstbewusstsein der Deutschen und ihr Uberlegenheitsgefühl, das auch in einer bewuss- ten, nie aufgegebenen Abkapselung seinen Aus­druck gefunden hatte. Nicht selten sahen die Kolo­nisten verächtlich auf die Russen und erst recht auf die Kaukasier herab. Insbesondere war es jedoch der Reichtum der Deutschen, der die Missgunst der ein­heimischen Bevölkerung hervorrief. Insgesamt gese­hen fanden daher die späteren Verfolgungsmaßnah­men der Regierung dort kaum eine Missbilligung.

Zwar kam die Masse der transkaukasischen Kolo­nisten glimpflich durch den Ersten Weltkrieg und sollte auch dann noch einmal eine längere Galgen­frist erhalten, aber die wohlhabenden Grundbesitzer und die arrivierten Geschäftsleute mussten seit 1914 jederzeit mit ihrer Verhaftung rechnen. Für Christoph Vohrer III, dem seinerzeit bekanntesten deutschen Unternehmer im Kaukasus, begann eine endlose Leidenszeit. Bei Kriegsbeginn hatte er sich nur dadurch einer Festnahme entziehen können, dass er sich freiwillig an die türkische Front meldete. Doch 1916, inzwischen verwundet aus dem Armee­dienst entlassen, wurde Vohrer unter dem Vorwand, vergiftete Weine geliefert zu haben, zusammen mit sechs weiteren Aktionären der Firma gefangenge­nommen und auf der Burg von Tiflis eingekerkert. Obwohl nach der Februarrevolution 1917 wieder entlassen, gab es von nun an für «Kapitalistensöhne» keine Sicherheit mehr.

1920 erfolgte die Enteignung der beiden Helenen­dorfer Großbetriebe, doch wurden die bisherigen Teilhaber zunächst in der Verwaltung belassen. Christoph Vohrer III konnte sogar in der NEP-Zeit - Lenin verkündete 1921 die relativ liberale «Neue Ökonomische Politik» -, die alte Familienbrauerei betreiben, wurde dann aber 1926 als «Spion» erneut nach Tiflis verbracht. 1928, nach wenigen Monaten der Freiheit abermals geholt, sah er sich in ein Arbeitslager in den Nordural verbannt, wo er im Jahr darauf von seinen beiden Kindern besucht wer­den konnte, die ihn auf abenteuerliche Weise dort ausfindig gemacht hatten.

Als wie prominent der inhaftierte Geschäftsmann seinerzeit immer noch galt, mag man daraus erse­hen, dass bald darauf seine Frau nebst Tochter sogar von Kalinin, dem nominellen Staatsoberhaupt der Sowjetunion, zu einer Fürsprache empfangen wurden, auch von der Frau des Dichters Maxim Gorkij sowie von Wyschinskij, dem sowjetischen General­staatsanwalt. Tatsächlich kehrte Vohrer III 1931 nochmals aus dem Straflager zurück und arbeitete dann noch bis 1937 als landwirtschaftlicher Berater bei der Regierung von Armenien. Im Rahmen der unionsweiten Verhaftungswelle 1936-38 geriet er schließlich ein viertes Mal in die Fänge seiner Häscher, und diesmal blieb er für immer verschwunden, wie übrigens bald darauf auch alle anderen männlichen Mitglieder der Unternehmerfamilie.

Nur wenigen Kaukasusdeutschen war es gelungen, sich noch rechtzeitig den Verfolgungen zu entziehen. Zu ihnen gehörte Theodor Hummel, der neben seiner verantwortlichen Tätigkeit als Geschäftsführer der Handelsgesellschaft Gebrüder Hummel und seinem öffentlichen Wirken als Dorfschulze und Schulrat von Helenendorf schließlich zum Wortführer aller deutschen Kolonien im Südkaukasus geworden war. 1917 hatte Hummel das «Zentralkomitee der Kaukasusdeutschen» gegrün­det. In seiner neuen Eigenschaft war er im April 1918 nach Deutschland gereist, um sich dort für die Belange der Kolonien einzusetzen. Nach der deutschen Niederlage sah Hummel seine Aufgabe wieder im Kaukasus, ging aber 1920 im Auftrag verschiedener Wirtschaftsunternehmen erneut nach Deutschland.

 


Dieses Foto von 1925 zeigt einen Blick in den Keller der "Konkordia",
der Helenendorfer Winzergenossenschaft, die damals auf dem besten Weg war,
ein Unternehmen von Weltruf zu wenden

 

Von dieser Reise - inzwischen war ganz Transkaukasien an die Bolschewisten gefallen - kehrte er nicht mehr in seine Heimat zurück, blieb ihr aber weiterhin eng verbunden. Der Helenendor­fer Schule vermittelte er, solange dies möglich blieb, tüchtige Lehrkräfte und wertvolle Lehrmittel, und jungen Flüchtlingen aus Transkaukasien verhalf er «im Reich» zu Studienplatz und Stipendium. Als Vorstand des «Vereins der Kaukasusdeutschen» (eingetragen 1922) setzte sich Theodor Hummel wei­terhin für die Belange seiner Landsleute ein. Auch pflegte er Kontakte mit Reutlingen, der früheren Heimatstadt seiner Familie. Als Hummel im Sep­tember 1944 in Darmstadt einem Riegerangriff zum Opfer fiel, betrauerte man ihn als «Vater und Führer der Kaukasusdeutschen».

Auch der eigenen Familie gegenüber sah sich Theodor Hummel zu größtem Dank verpflichtet. Zwischen 1921 und 1923 hatte er fünfzehn Ururenkel vom alten «Glaserhummel» und zweiundzwanzig von deren Kindern die Ausreise nach Deutschland und ins übrige Ausland ermöglicht. Insgesamt dürfte - auch Christoph Vohrer III verhalf drei seiner Vettern zur «Flucht über den Arax» - etwa hundert Deutschen aus dem Südkaukasus der Ausbruch gelungen sein. Für die Zurückgebliebenen bedeutete das keinen geringen Aderlass.

Die Enteignung der beiden Helenendorfer Großgrundbesitzer war von manchen kleinen Kolonisten nicht ohne Schadenfreude registriert worden, zumal die Masse der Bevölkerung zunächst unbehelligt blieb und weiterhin ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen konnte. Doch auch die weniger Begüterten kamen nicht ungeschoren davon. Im Gegenteil. Nach einem Bericht der «Kaukasischen Post» in Tiflis ist Helenendorf im Dezember 1920 von aser beidschanischen Aufständischen völlig ausgeplündert worden. Unter dem Schlagwort «Expropriation der Bourgeoisie» besetzte damals eine überlegene Gruppe von Rotarmisten die Kolonie und beschlag­nahmte sämtliches lebende Inventar, alles Geflügel, alle Lebensmittelvorräte, alles, was nach den Begriffen des Kommunismus an Wäsche und Bekleidung als überflüs­sig gilt, alles Hausgerät bis auf das Unentbehrlichste, d. h. einen Teller, ein Paar Messer und Gabeln, einen Löffel, einen Topf, eine Bettstelle, eine Decke, ein Kopfkissen usw., alle Möbel außer einem Tisch und einer Anzahl von Stühlen, ja selbst alle Fensterscheiben (mit den Rahmen). Daraufhin zwang man die «Expropriierten», das Beutegut auf ihren ebenfalls konfiszierten Wagen nach Gandscha auf die Bahn zu schaffen. Was nicht mitgenommen werden konnte, wurde von der Sol­dateska im Suff - Wein fand sich ja im Überfluss - zerschlagen. Die Not in Helenendorf spottete seiner­zeit jeder Beschreibung Ein Wunder, dass sich die Siedlung von diesem Sturm überhaupt erholen konnte. Die NEP-Periode von 1921 bis 1927 wurde nochmals eine bessere Zeit, in der sowohl Landwirtschaft als auch Gewerbe ein letztes Mal aufblühten. Die örtliche Winzergenossenschaft «Konkordia» war sogar auf dem besten Weg, ein Unternehmen von Weltruf zu werden. Die­ses Gemeinschaftswerk, bereits vor dem Krieg gegründet, hatte sich halten können, weil es sich nach kommunistischen Anweisungen umorgani­sierte und dadurch erhebliche Gewinne für den Staat abfielen. Der «Konkordia» wurden die konfiszierten Großbetriebe sowie die Genossenschaften der übri­gen Schwabendörfer in Aserbeidschan unterstellt. Auf diese Weise kam der Weingroßhandel wieder in Gang. Die Produkte aus den deutschen Kolonien fanden über eigene Verkaufsfilialen in Moskau, Leningrad, Kiew und anderen Großstädten überall in der UdSSR ihren lohnenden Absatz. Uberhaupt hatte sich dabei gezeigt, dass eine in echtem Gemein­schaftsgeist und von Sachverständigen ohne ideolo­gische Scheuklappen geführte Genossenschaft durchaus von Segen für alle Beteiligten werden kann. Der Gemeinschaftsbetrieb warf nebenher immer noch genügend Geld für die Erfüllung von Gemeindeaufgaben ab. So kam die «Konkordia» zum Beispiel weitgehend für die Unterhaltung des Helenendorfer Schulwesens auf. Doch mit der Unterbindung des freien Handels im Jahr 1928 fand diese Entwicklung ein jähes und beklagenswertes Ende.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft begann jedoch in Transkaukasien relativ spät, und mancher kleine Kolonist mochte insgeheim gehofft haben, von dieser unionsweiten Aktion verschont zu blei­ben. Erst 1932 wurde zum Eintritt in den Helenen­dorfer Kolchos «Ernst Thälmann» aufgerufen. Aber zu Jahresende hatte dieser bloß neun Mitglieder. Daher beschloss die örtliche Parteileitung 1933, den nötigen Druck auszuüben und die Leute einzu­schüchtern. Nachdem eine ganze Reihe von Oppo­nenten als «Rädelsführer» bei Nacht geholt worden war, wählten die übrigen Weingärtner und Hand­werker bis 1934 das geringere Übel und traten der Kolchose bei. Damit war der Niedergang der Kolo­nie besiegelt. Das neue Kollektiv umfasste nunmehr auch hunderte von Nichtdeutschen, Armenier, Aissoren und Russen. Die letzteren zeigten sich aber weniger unglücklich über die Entwicklung, hatten sie doch kaum etwas an Besitz einzubringen, wogegen die Kolonisten alles Land bis auf einen kleinen Gemüsegarten abgeben und zumeist auch noch ihre Häuser mit anderen Kolchosemitgliedern teilen mussten. Infoge dieses Gewaltakts erstarb jeglicher Leistungsanreiz. Das Weingeschäft begann zu ver­kümmern, und die Gewerbebetriebe verloren ihre überregionale Bedeutung.

Von nun an drohte ständig eine willkürliche Verhaftung. Einflussreiche Bürger schwebten aber in besonderer Gefahr. 1933 wurde der Lehrer Jakob Hummel in Baku inhaftiert, angeblich weil er in Deutschland ein Buch veröffentlicht hatte. Er wurde jedoch nach sechs Monaten wieder entlassen. Von den späteren Verhafteten ist dann niemand mehr zurückgekommen, weder der Unternehmer Theophil Votteler noch der Arzt Dr. Wilhelm Hurr. Nach einer von dem Helenendorfer Gottlieb Andriss zusammengestellten Liste wurden in der Kolonie in den Jahren 1933 bis 1941 insgesamt 187 Leute - darunter 19 Frauen - ohne ersichtlichen Grund ver­haftet. Etwa 80 % davon dürften umgekommen sein. Auf die Familien Hummel, Vohrer und Votteler ent­fielen allein 49 Personen.

Inzwischen hatte man längst mit der Russifizierung und Sowjetisierung Helenendorfs begonnen. Seit 1928 trug die Ortschaft offiziell den Namen Chanlar, nach einem aserbeidschanischen Revolu­tionär. Die Ortsdurchfahrten wurden nach Lenin, Thälmann und der Oktoberrevolution umbenannt, und die Bürger hießen nunmehr Genossen. Für die Jugend gab es eine Pionier- und Komsomolabteilung und unweit der Kirche stand ein Lenindenkmal. Die deutsche Oberrealschule wurde in eine sowjetische Zehnklassenschule umgewandelt mit - seit 1938 - Russisch als Unterrichtssprache. Deutsch wurde fortan erst ab Klasse 5 als Fremdsprache erteilt.

Gleichzeitig hatte alles zu verschwinden, was nicht in den roten Zwangsrahmen passte, vor allem die Kirche. Pastor Otto Wenzel, der letzte Seelsorger der Kolonie, hielt durch bis zum bitteren Ende. 1934 konnte er letztmals mit 83 jungen Leuten Konfirma­tion feiern. Dann wurde der Druck immer unerträg­licher. 1937 mussten die Gotteshäuser in Transkaukasien auf freiwilligen Beschluss der Gemeinden einem besseren Zweck zugeführt werden. Die ehrwürdige St.-Johanniskirche von Helenendorf wurde in einen Sportsaal umgewandelt und der Pastor gezwungen, künftig an der Schule Geschichtsunter­richt zu erteilen, ein Fach, für das Stalin persönlich die Richtlinien vorgegeben hatte. Nachdem längst alle kirchlichen Feiertage abgeschafft worden waren, wurden nunmehr auch die deutschen Kul­turveranstaltungen mehr und mehr unterbunden. Das Helenendorfer Heimatmuseum, von Jakob Hummel in liebevoller Arbeit aufgebaut, musste geschlossen werden, und der «Deutsche Verein» überlebte nur deshalb noch einige Jahre, weil er seine Pforten der nichtdeutschen Bevölkerung hatte öffnen müssen.

 

Im Oktober und November 1941 wurden die schwäbischen Helenendorfer nach Kasachstan deportiert.

 

Der Schlussakt für das Russlanddeutschtum begann am 22. Juni 1941. Der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion wurde zum Menetekel. Einer der ersten Beschlüsse der Sowjetregierung nach Hitlers Uber­fall betraf die Deportation der deutschen Bevöl­kerung. Im Juli begann die Evakuierung der Kolonisten in der Ukraine (etwa 100000 Personen), im August wurden die Deutschen auf der Krim (etwa 35 000) abtransportiert, und im September traf die 379 000 Wolgadeutschen das gleiche Schicksal. In der ersten Oktoberhälfte waren die deutschen Kolo­nien im Nordkaukasus an der Reihe (ca. 10000), und mit der Zwangsaussiedlung der Deutschen in Trankaukasien (ca. 25 000) fand die Aktion zwei Wochen darauf ihren Abschluss.

Die Helenendorfer traf dieses schlimme Los nicht ganz unerwartet. Man wusste von den Verschickun­gen an der Wolga und dem Schicksal anderer deut­scher Volksgruppen. Auch war den Kolonisten einige Tage zuvor mitgeteilt worden, dass die Umsiedlung unmittelbar bevorstünde und sie pro Person nur ein einziges Gepäckstück mitführen dürften. Daraufhin begann in den Häusern ein hektisches Treiben. Geflügel und Schweine wurden geschlachtet, die Habe gesichtet und große Bündel geschnürt.

Am 17. Oktober 1941 mussten die Gebäude abgegeben werden. Von ihrem ganzen Eigentum blieb den Siedlern am Ende nur eine Quittung des örtli­chen Sowjets und ein Stück Handgepäck. Doch immerhin waren die Bedingungen nicht ganz so inhuman wie im Wolgagebiet, wo die Betroffenen oft innerhalb von zwei Stunden ihre Häuser räumen mussten, wo alle Familienväter von Frau und Kindern getrennt wurden und der Abtransport in plombierten Eisenbahnwaggons erfolgte.

Der Auszug unter der Regie des NKWD erfolgte in zwei Etappen am 18. und 19. Oktober. Auf Lastwagen wurden die «Umsiedler» zum Bahnhof von Gandscha gebracht. Von dort beförderte man die menschliche Fracht mit der Eisenbahn nach Baku. Dann ging es per Schiff über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk in Turkmenien, wo auf die Ver­triebenen abermals ein langer Güterzug wartete. Man muss fast bezweifeln, dass die Stalinschen Schergen zu diesem Zeitpunkt selbst genau wussten, wohin die Reise ging, denn aus dieser Fahrt wurde eine wahre Odyssee.

Vom Ostufer der Kaspisee beschreibt die Bahn ein riesiges, etwa 5000 Kilometer langes S. Zunächst fuhr sie in einem weiten südlichen Bogen über die turkmenische Metropole Aschchabad und das antike Samarkand nach Taschkent (Usbekistan), dann 2000 km nach Nordwesten bis Orenburg (Ural), von dort über 1000 km nach Osten bis Omsk (Sibirien) und dann schließlich noch 500 km nach Süden bis Zelinograd (Kasachstan), einem wichtigen Mittelpunkt für die Neulandgewinnung in der Kasachensteppe, etwa 250 km nordwestlich von Karaganda. Diese Irrfahrt vom Fuß des südlichen Kaukasusgebirges bis ins Zentrum von Innerasien dauerte bis Mitte November 1941. An Ort und Stelle wurden die Verbannten in die primitiven Hütten der einheimischen Bevölkerung einquartiert.

Die Kriegsjahre - das gilt für alle 1941 deportier­ten Russlanddeutschen - waren besonders hart und forderten unzählige Todesopfer, weil die Verbannten die Kälte schlecht durchstanden, und weil die arbeitsfähigen Männer und Frauen, aber auch Kin­der ab vierzehn Jahren, bald nach der Ankunft in ihren Zielorten für die «Trudarmee» mobilisiert wur- dem, wo sie, hauptsächlich in den Bergwerken, bis Kriegsende Zwangsarbeit zu leisten hatten.

An eine Rückkehr in die frühere Siedlungen war aber auch späterhin nie zu denken. So sahen sich die deutschen Kolonisten unter den widrigsten Bedingungen gezwungen, in der kasachischen Sowjetrepublik eine neue Existenz aufzubauen. Dort führten sie zuletzt kein schlechtes Leben.

Doch sicher fühlten sie sich nie. Nach dem Zerfall der Sowjetunion begannen kasachische Nationali­sten, die weißen Minderheiten zu verfolgen. Hinzu kam, dass die nach Innerasien verschleppten Kolo­nisten befürchten mussten, in absehbarer Zeit ihre deutsche Identität zu verlieren. Deshalb wuchs unter ihnen das Bestreben, in die Bundesrepublik auszu­wandern. Reale Möglichkeiten zur Ausreise eröffne­ten sich dann unter Gorbatschow und Jelzin. Seitdem ist die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetunion (1989 laut amtlicher Volkszählung 2 038 341 Personen) nach Deutschland verzogen. Die Schwaben aus dem Kaukasus aber sind wieder in Württemberg, der Heimat ihrer Vorväter, ansässig geworden.


 

 

 

 

 

 © 2006 Gerhard Walter